Ganz dringend war es schon gewesen diesmal. Nachdem bereits das Frühjahr ziemlich intensiv gewesen war, setzte der Sommer von der Arbeitsbelastung her noch eines drauf. So wenig Freizeit hatte ich in 21 Jahren Fliegerei noch nie gehabt, 120% war meine Arbeitsleistung inklusive Überstuden jedes Monat - scheint irgendwie, als würden wir Alles, was wir in der Corona-Kurzarbeit nicht gearbeitet hatten, nun binnen kürzester Zeit nachholen müssen. Dazu waren die Flieger alle brechend voll, ebenso wie die Grenzen der gesetzlichen Möglichkeiten für unsere Dienstplangestaltung bis ins Letzte ausgereizt wurden. Resultat: ich bin erschöpft und ausgelaugt. Aber so richtig. Und fieberte meiner freien Woche entgegen, die nun endlich gekommen ist.
Das Baltikum hatte ich bisher noch recht wenig bereist gehabt. Die lettische Hauptstadt Riga und die estnische Tallinn hatte ich immerhin schon mal besucht, Litauen insgesamt hingegen noch gar nicht. Zeit, das zu ändern. Und nachdem ich, solange noch Ferien sind, sowieso nicht gerne an irgendwelche Massenziele Westeuropas oder des Mittelmeeres fliege, bot sich diese Woche an, mal wieder etwas individuellere Wege einzuschlagen. Knapp 90 Minuten dauerte der Flug - abermals mit Ryan Air. Es klappte auch diesmal wieder überpünktlich und reibungslos - so ungern ich diese Ausbeuterfirma unterstütze, so angenehm ist es, sich keine Sorgen um einen Sitzplatz machen zu müssen und einfach einzusteigen. Der Flieger nach Vilnius war im übrigen genauso voll wie jeder andere....nämlich komplett.
Das Gepäck war gleich da, und auch meinen Mietwagen hatte ich sehr schnell übernommen. Und war schon on the road. In meinem Land Nummer 94 - erstmals seit Anfang 2020 in Myanmar wieder ein neues! Auch da hatte Corona die Bremse gezogen! Es war auch hier im Norden noch sehr sommerlich, sogar richtig schön heiß mit über 30 Grad. Morgen noch, dann bricht der Herbst herein, aber ja, Ende August hätte ich sowieso hier mit kühlerem und wechselhafterem Wetter gerechnet und bin dankbar für jeden Sommertag, den ich noch auskosten kann. Eine gute Stunde war ich unterwegs und erreichte dann auch schon mein heutiges erstes Ziel - die besagte Kulturhauptstadt Kaunas.
Mein Hotel ist klein und fein und liegt mitten im neuen Zentrum. Es gibt ein altes Zentrum um die Burg und den Rathausplatz, das zum Großteil aus dem 16. Jahrhundert stammt, und es gibt daran angrenzend ein neueres mit Bauten vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, rund um den großen Prachtboulevard Freiheitsallee, der eine reine Fußgängerzone und Flaniermeile ist. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen. Das neue wie das alte Zentrum sind zauberhaft. Voller sommerlicher Leichtigkeit und erfüllt von Leben, ohne dabei in irgendeiner Form hektisch zu wirken. Es ist aber auch Wochenende. Es gibt schöne Plätze und Gassen, vieles wurde oder wird renoviert, es ist grün und gepflegt, die Menschen flanieren durch die Stadt oder sitzen in Straßencafés und bevölkern die zahlreichen Bars und Restaurants. Litauerinnen sind übrigens meistens in etwa so groß wie ich und sehr oft blond (und nicht unattraktiv), Litauer überwiegend um einen Kopf größer als ich. Ähnlich wie in Polen merkt man, dass Litauen sehr stark von der russischen Aggression auch direkt und menschlich betroffen ist, überall wehen ukrainische Fahnen und finden Solidaritätsbekundungen statt. Die Idee, dass man aus Eigennutz Putin schalten und walten lassen sollte, wie er will und dass, nur damit es bei uns nicht unbequem wird, man die Sanktionen aufheben sollte, wie es rechtspopulistische Vereinfacher immer lautstärker in weiten Teilen Europas trommeln, ist in Staaten, die direkt angrenzen an den Aggressor, nicht sehr populär - und das mit Recht. Appeasement führte schon 1938 mit Anlauf direkt in den Zweiten Weltkrieg - und das ist Staaten wie Litauen, die sich erst vor gut 30 Jahren aus den Fängen der Sowjetunion befreien konnten, sehr stark bewusst, wenn die Bedrohung direkt vor ihrer Türe liegt. Schon allein für diese Partnerländer, die den Wandel erfolgreich geschafft haben und die gefestigte und auch durchaus prosperierende Demokratien und Rechtstaaten im Herzen Europas geworden sind, sollte man nicht einmal eine Sekunde daran denken, Putin auch nur einen Millimeter nachzugeben.
Ich jedenfalls genoss das Leben, die Freude, etwas Neues zu sehen, unterwegs zu sein und endlich auch einmal wieder eine Woche Zeit ganz für mich zu haben, in vollen Zügen, ich aß hervorragend zu Abend und bin mir erst bewusst geworden, wie sehr mir das bereits wieder gefehlt hatte. Die Welt und ihre schönen Seiten mit allen Sinnen zu erfassen - und dafür auch Zeit und Ruhe zu haben - das ist mein ultimatives Glücksgefühl. Nicht mehr und nicht weniger. Es war ein durch und durch schöner Tag. Den ich nun beenden werde. Morgen geht es an die Ostsee. Mehr von dort!