Vielseitig ist sie. Es gibt das French Quarter, also die Altstadt, die ich euch bereits gestern vorgestellt habe.
Dann gibt es den Garden District. Das Viertel der Reichen. Hier lässt sich Südstaatenidylle erleben - Idylle freilich aus Sicht der Privilegierten. Prächtige Villen mit wunderschönen Gärten, umrankt von herrlicher Vegetation - so muss sich das Leben eines Plantagenbesitzers angefühlt haben. Und bestimmt nicht jenes eines Sklaven oder einer Sklavin. Auch heute ist dieses Viertel, wie könnte es anders sein, vorwiegend weiß. Neben den Wohnhäusern zieht sich mit der Magazine Street auch eine Achse des Konsums durch den Stadtteil - freilich eine des angenehmen Konsums. Keine großen Shoppingtempel sondern kleine individuelle Läden, dazwischen gemütliche Cafés und Bäckereien. Ein sehr angenehmer Ort also, der aber wenig mit dem vibrierenden und bunt gemischten alten Zentrum zu tun hat.
Zwischen French Quarter und Garden District liegt noch der Warehouse District, der gleichzeitig auch den Beinamen "Arts District" führt. Hier ist die Stimmung wieder eine ganz andere. Ein Musterbeispiel ehemaliger Lagerhausarchitektur aus dem 19. Jahrhundert. Wie in vielen Teilen der Welt verfielen diese Lagerhäuser im Zuge der Deindustrialisierung. Das historische Erbe wurde aber auch hier bewahrt, die Bausubstanz wurde revitalisiert, was auf dem Fuße folgte, war natürlich auch die Gentrifizierung. Heute ist der Warehouse District der hippste Teil von NOLA, hier finden sich zahlreiche coole Cafés, rund um das große neue Convention Center. Auch wurde eine Art Museumsquartier geschaffen, speziell das World War II Museum besticht mit spannender Architektur. Ein Stadtteil zum Wohlfühlen und optimales Bindeglied zwischen Altstadt und Garden District.
Weitere Charakteristika habe ich auch für mich entdeckt. Das öffentliche Verkehrsnetz ist für europäische Verhältnisse ziemlich unterdimensioniert - aber im Endeffekt kommt man mit den Bussen schon ganz gut voran. Auch zirkulieren auf einigen Routen noch bzw wieder die Linien der historischen Straßenbahn, die hier "Streetcar" genannt wird. Die meisten Linien operieren zur Zeit aber gerade nicht, denn es hatte im September einen Hurricane (Ida) gegeben, der viele der Gleisanlagen beschädigt hatte, die nur in zähem Tempo wieder instand gesetzt werden.
Apropos Hurricane - ein solcher war so eine Art von Zäsur in der Stadt. 2005 wütete hier der berühmte Wirbelsturm Kathrina, ließ mit seinen Wassermassen die Deiche brechen und die ganze Stadt wurde überflutet. New Orleans liegt zum großen Teil unter dem Meeresspiegel auf trocken gelegtem Sumpfland, und die Dämme erwiesen sich zum Großteil als absolut unzureichend, um die Fluten aufzuhalten. Über 2000 Menschen starben in Folge von Kathrina, und bis heute ist 2005 für die Bewohner eine Art von Trauma. Die neue Zeitrechnung beginnt danach - viele Unterhaltungen beginnen mit "vor Kathrina" oder "nach Kathrina". Die wesentlichen Spuren von Kathrina sind optisch beseitigt, es gibt ein kleines Erinnerungs Memorial mit einer Skulptur, aber die Wunden sitzen tiefer. Die Dämme wurden abermals aufgerüstet - das bange Warten auf die nächste große Katastrophe bleibt.
Unter dem Meeresspiegel - ein weiteres Stichwort für ein interessantes Detail. Berühmt ist NOLA auch für seine Friedhöfe. Diese werden allesamt als "Cities of the Dead" bezeichnet - denn die Leichen können hier aufgrund des sumpfigen Untergrunds nicht unter der Erde begraben werden sondern werden oberhalb bestattet. Daher auch die gewaltigen Totenstätte mit monumentalen Gräbern. Die Friedhöfe sind allerdings derzeit nahezu alle komplett geschlossen, da auch beschädigt. Ich habe morgen Vormittag eine kurze Walking Tour gebucht, um wenigstens von außen einen halbwegs guten Blick darauf werfen zu können. Bis Dinge hier wieder instandgesetzt sind, insbesondere, wenn sie unter die Zuständigkeit der öffentlichen Hand fallen, dauert es ewig. Öffentliche Infrastruktur wird in amerikanischer Tradition seit jeher vernachlässigt, darin große Summen zu investieren gilt nach dem eigenartigen Verständnis hier schnell einmal als "kommunistisch" - ein Wort, das - vor Allem von der republikanischen Reichshälfte - mit nahezu panikhafter Paranoia inflationär verwendet wird bei Allem, was der Allgemeinheit zugute kommen könnte. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, top modern sind Dinge, mit denen man Gewinn machen kann, alles andere wird eher halbherzig bis gar nicht betreut und wirkt um Jahrzehnte hinten nach und antiquiert.
Aus dieser für uns Europäer nur schwer nachvollziehbaren Denkweise resultiert ein auch hier in New Orleans deutlich sichtbares Phänomen. Armut. In einem der reichsten Länder der Welt. Manche Stadtteile gelten hier, so wie in jeder amerikanischen Großstadt, als gefährlich. In der Altstadt sieht man sehr viele Obdachlose zwischen den Touristen und den Musikern, diese sind unaufdringlich und harmlos, bitten immer wieder um Geld. So sieht es aus, wenn der Staat sich aus der Verantwortung nimmt, obwohl die Mittel da wären. Ein Sozialsystem wäre kommunistisch, eine allgemeine Krankenversicherung, wie sie es demokratische Präsidenten immer wieder erfolglos versuchen, einzuführen, gilt als Blasphemie. Quasi - jeder, der es nicht selbst schafft, ist angeblich auch selbst schuld und muss schauen, wie er zurecht kommt. Im besten Fall ist er auf das Wohlwollen einzelner Reicher angewiesen, die nach eigenem Gutdünken Charity Projekte ins Leben rufen, wenn ihnen danach ist. Ist ihnen nicht danach, haben sie Pech gehabt, den Staat geht das nichts an. In einem Land der dritten Welt verstehe ich das, da es nichts zu verteilen gibt bzw das wenige durch korrupte Strukturen irgendwo versickert, in den USA ist mir dieser Zugang allerdings wirklich fremd. So gesehen, man könnte dem ersten einen Dollar geben, dem zweiten und auch noch dem Dritten. Aber es kommt der Vierte und der Fünfte und der Sechste. Es ist fast uferlos und tut mir weh, weil jeder Dollar ein Tropfen auf den heißen Stein ist, und selbst wenn ich mein Monatseinkommen hier spenden würde, hilft es nicht viel. Das Versagen eines Staates ist eine Schattenseite von New Orleans, die sehr deutlich erlebbar wird. Es müsste nicht sein.
Individualität über alles also - es ist schon ein durch und durch rücksichtsloses System, das Stärkere stärker und Schwächere schwächer werden lässt. Ambivalent wirkt sich das auch auf die aktuelle Thematik der Corona Regeln aus. Während es in demokratischen Staaten wie New York meistens klare Vorschriften gibt, ist in republikanischen wie Louisiana alles den Betreibern von Geschäften, Museen, Restaurants, Bars überlassen. Das einzige "Federal Law" diesbzüglich betrifft öffentliche Verkehrsmittel inklusive "Transportation Hubs" wie Flughäfen. Hier wird Maskenpflicht vorgegeben. Der Rest idt freigestellt. Und das sieht dann in der Praxis so aus: Auf jedem Geschäft oder Lokal findet sich am Eingang eine Information. Also nicht auf jedem, denn auf manchen steht gar nichts, das heißt Zugang dann jederzeit möglich, ob mit oder ohne Maske, ist egal. Auf anderen steht "Masks encouraged", auf wieder anderen "No Mask, no service". Andere wollen Maske und einen 1G Impfnachweis, andere 1G Nachweis aber keine Maske. Wieder andere wollen 1,5G (sprich akzeptieren geimpft oder PCR getestet). Ein unübersichtlicher Wildwuchs an Regelungen also. Die Corona Zahlen sind im Gegensatz zu Europa, wo sie gerade voll aus dem Ruder laufen, eher moderat, also setze ich die Maske dann auf, wenn sie jemand vorschreibt oder eventuell auch "encouragt", und wenn nicht dann eben nicht. Mir ist es egal und mir ist es bei dem Thema im Moment nur recht, so weit wie möglich von Österreich entfernt zu sein. Verwirrend ist es trotzdem.
Kommen wir zum Abschluss meiner ausführlichen Betrachtung der Stadt nun wieder zu einem erfreulicheren Kapitel neben dem musikalischen Swing, der ihr innewohnt. Der Kulinarik. Louisiana hat als eine der wenigen Teile der USA eine wirklich eigenständige regionale Küche mit vielen Spezialitäten, die ihre Wurzeln im Kreolischen haben, dem Afrokaribischen. Und so finden sich mehrere Gerichte, die es nur hier gibt - wie Jambalaya (Reisgericht), Gumbo (Eintopf), Etoufée (Schmorgericht auf Reis), Po-Boys (nichts Schwules auch wenn es so klingt sondern kurz für "Poor Boys" - ein Arme Leute Sandwich mit diversen Füllungen) oder Muffeletas (runde Sandwiches mit Salami, Provolone und Oliven). Bread Pudding mit Rum ist ebenso typisch wie Banana Foster Cream Pie, eine cremige Bananentarte mit in Rum getränkten Bananen. Eine eigene kulinarische Tradition finde ich immer schön - und das was ich gekostet habe, schmeckte auch ausgezeichnet. Herzhaft, geradlinig und ehrlich ist die Küche. Das Rundherum wie verbreitetes Wegwerfbesteck, Plastik-oder Styroporteller und -schüsseln und -becher in rauen Mengen abseits der gehobenen Gastronomie finde ich aber erschreckend - ich war 10 Jahre nicht mehr wirklich in den USA, aber es ist, als hätte sich dahingehend nicht einen Zentimeter etwas bewegt. Wahrscheinlich ist Umweltschutz und etwas nachhaltigeres Handeln - naja, kommunistisch oder so....jedenfalls unerklärlich dass man hier dem Rest der westlichen Welt so weit hinterherhinkt.
Anyway, ich hoffe, ihr fandet mein Stadtporträt interessant, da es doch auf einer Vielzahl an Eindrücken und Beobachtungen basiert, die mir heute so durch den Kopf geschossen sind. In Summe finde bleibe ich aber bei meiner gestrigen Euphorie - NOLA ist etwas besonderes und eine tolle Stadt mit einer einzigartigen Atmosphäre. Die Schattenseiten gehören aber bei einer Gesamtbetrachtung nicht unter den Tisch gekehrt, wie ich finde.
Morgen bleibt mir noch ein ganzer Tag, nachdem heute meine Schiffsfahrt im Schaufelraddampfer kurzfristig abgesagt wurde, bin ich nun morgen Nachmittag für die Fahrt auf dem "Ol' Man River" gebucht. Ich habe mein Programm dahingehend heute adaptiert und den Garden District vorgezogen. Morgen habe ich am Vormittag die Friedhofstour und am Nachmittag die Bootsfahrt auf dem Mississippi geplant, und danach eventuell noch ein paar Jazzbars in der Frenchmen Street, die ich auch noch nicht gesehen habe. Es wird also noch einmal intensiv, bevor ich weiter ziehe nach Mexiko. Bleibt dran!